Rede: Der Mindestlohn ist eine Frage der Würde
Rede: Der Mindestlohn ist eine Frage der Würde

Rede: Der Mindestlohn ist eine Frage der Würde

Die Rede im Wortlaut:

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es gibt tatsächlich vier Punkte, über die ich mich heute ganz besonders freue.

Der erste Punkt ist: Es ist tatsächlich ein Gesetzentwurf zur Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns vorgelegt worden. Das ist ein großer Fortschritt in Deutschland.

Das Zweite, das mich freut – ich hätte gar nicht daran geglaubt, meine Damen und Herren von der CDU/CSU -, ist die Einsicht in die Realität, dass wir diesen Mindestlohn brauchen. Ich finde es toll, wie Sie Ihre Meinung in diesem Punkt geändert haben.

Ich kann mich noch daran erinnern, dass das früher anders klang. Ich zitiere Herrn Lehrieder: „Ein flächendeckender gesetzlicher Mindestlohn funktioniert nicht.“ Max Straubinger hat gesagt: „Die Auswirkungen gesetzlicher Mindestlöhne bestehen nicht nur in erhöhter Arbeitslosigkeit.“ Und so weiter.

Dass Sie sich jetzt, kurz vor Pfingsten – da kommt ja der Heilige Geist ‑, dazu durchringen konnten, Ihre Meinung zu ändern, ist klasse.

In der Begründung des Gesetzentwurfs heißt es – und das freut mich sehr; ich zitiere -:

Die Ordnung des Arbeitslebens durch Tarifverträge ist in den letzten Jahren deutlich zurückgegangen. … Dies hat den Tarifvertragsparteien die ihnen durch Artikel 9 Absatz 3 des Grundgesetzes überantwortete Ordnung des Arbeitslebens strukturell erschwert.

Das ist die Anerkennung dessen, dass Ihr in den letzten Jahren üblicher Verweis darauf, dass die Tarifvertragsparteien das Problem regeln sollen, schlichtweg nicht mehr reicht. Sie erkennen mit diesem Gesetzentwurf an, dass Sie damit falsch gelegen haben. Wenn die Tarifvertragsparteien das regeln sollen, dann muss man sie stärken. Ich freue mich über Ihren Gesinnungswandel. Bravo, meine Damen und Herren!

Das Dritte, das mich sehr freut – ich kann es nicht anders sagen -, ist, dass die Partei, die sich seit Jahren in diesem Land als sozialer Bremser dargestellt und den Mindestlohn konsequent abgelehnt und verhindert hat, diese Debatte von der Tribüne oder vor dem Fernsehgerät verfolgen kann. Auch das freut mich sehr, meine Damen und Herren.

Der vierte Punkt ist: Mich freut, dass an diesem Gesetzentwurf deutlich wird, dass sich Hartnäckigkeit lohnt. Steter Tropfen holt den Stein.

(Volker Kauder (CDU/CSU): Höhlt!)

– Was habe ich gesagt?

(Sabine Weiss (Wesel I) (CDU/CSU): Holt!)

– Er holt ihn auch. Er holt den Stein.

Herr Wadephul, Sie haben im Dezember 2010 gesagt – Zitat -:

Diskutieren Sie mit uns über andere sozialpolitische Themen als jede Woche über denselben Aufguss alter Themen.

Diese Hartnäckigkeit der Linken hat sich gelohnt.

Inzwischen haben auch Sie es begriffen. Sie können sich aufführen, wie Sie wollen: Das Thema Mindestlohn ist ein ursächliches Thema der Linken.

Wir haben das schon eingebracht, als Sie alle noch dagegen waren. Jetzt freuen Sie sich wieder. 2006 haben wir das Thema zum ersten Mal eingebracht. Alle waren dagegen, und die Einzige, die das Thema konsequent im Parlament vertreten hat, war die Linke. Deshalb lassen wir uns das Thema von Ihnen nicht nehmen, meine Damen und Herren. So ist die Welt.

Die Zweiten, die den Mindestlohn als Erfolg verbuchen können, sitzen nicht im Parlament. Das sind die deutschen Gewerkschaften. Sie haben durch ihre Aktivitäten wesentlich dazu beigetragen, dass auch Sie sich einem Meinungswandel unterzogen haben. Auch das freut mich ganz besonders, meine Damen und Herren.

Mich freut auch, dass Sie inzwischen unsere Begründung übernehmen.

Präsident Dr. Norbert Lammert:

Herr Kollege Ernst, lassen Sie Zwischenfragen zu?

Klaus Ernst (DIE LINKE):

Ja, selbstverständlich!

Präsident Dr. Norbert Lammert:

Na also. ‑ Bitte schön.

Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Sie haben darauf hingewiesen, dass Sie als Linke bereits 2006 für einen Mindestlohn gekämpft haben. Sie sind auch Mitglied der IG Metall.

Wenn ich mich richtig erinnere, war die IG Metall insbesondere in ihren Führungsgremien deutlich gegen einen Mindestlohn. Sie hat dieses Projekt damals noch bekämpft. Ich frage Sie ganz persönlich: Hat das bei Ihnen eigentlich zu schizophrenen Gefühlen geführt?

Klaus Ernst (DIE LINKE):

Das ist eine sehr nette Frage. Dass Sie diese Frage stellen, ist in gewisser Weise verwunderlich.

Wir haben hier über die Erodierung der Tarifverträge diskutiert. Wir lösen nun durch die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns ein Problem, das Sie in der Koalition mit der SPD selbst verursacht haben, und zwar durch die Hartz-Gesetze, durch die die Tarifverträge unter Druck geraten sind. Das ist die Wahrheit, Frau Pothmer.

Wenn Sie schon damals, als Sie regiert haben, auf die Gewerkschaften gehört hätten,

dann hätten wir dieses Problem nicht; denn die Gewerkschaften waren gegen die Hartz-Gesetze. Sie waren dagegen, dass die Leistungen für Arbeitslose gekürzt werden.

Hätte Sie damals auf die Gewerkschaften gehört, hätten Sie diese Frage nicht stellen müssen.

Ich bin im Übrigen überhaupt nicht schizophren. Ich habe schon damals innerhalb der Gewerkschaften und insbesondere innerhalb meiner Organisation durchaus zur Kenntnis nehmen müssen, dass wir auch in der IG Metall Bereiche haben, die nicht mehr dem Tarifvertrag unterliegen, weil wir nicht mehr die Stärke hatten, dort Tarifverträge durchzusetzen. Deshalb sage ich Ihnen: Es ist vollkommen richtig, was in dem vorliegenden Gesetzentwurf steht. Man muss die Tarifautonomie wieder stärken und darf nicht nur auf sie verweisen, in der Hoffnung, dass diese dann das Problem löst. Ohne starke Gewerkschaften sind die Probleme nicht lösbar. Sie haben die Tarifautonomie in Ihrer Regierungszeit geschwächt.

Nun zu den Bereichen, in denen wir Probleme mit dem vorliegenden Gesetzentwurf haben. Sie übernehmen unsere Begründung und sagen: Die Würde des Menschen gilt auch für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Es hat etwas mit Würde zu tun, ob ein Arbeitnehmer von seinem Lohn leben kann oder nicht. Diese Begründung höre ich inzwischen auch von Ihnen immer öfter. Aber Sie nehmen in Ihrem Gesetzentwurf die unter 18-Jährigen aus; sie sollen vom Mindestlohn nicht profitieren. Da frage ich Sie natürlich: Gilt für diese nicht der Satz von der Würde? Hat nicht auch schon ein 18-Jähriger so viel Würde, dass er vernünftig entlohnt werden soll? Warum eigentlich? Glauben Sie tatsächlich, dass viele junge Menschen in letzter Zeit deshalb keinen Ausbildungsplatz hatten, weil sie woanders zu hohe Löhne bekommen haben und deshalb keinen Ausbildungsplatz angenommen haben? So ein Unfug! Ich sage Ihnen: Hören Sie auf, solche Ausnahmeregelungen für unter 18-Jährige zu schaffen! Sie wollen solche Ausnahmeregelungen, weil Sie doch noch nicht alles begriffen haben. Das ist die Einschränkung meines Lobs von vorhin.

Ich halte es genauso für vollkommen falsch, Ausnahmeregelungen für Langzeitarbeitslose zu schaffen. Haben denn die Langzeitarbeitslosen keine Würde? Wenn Sie sagen, dass es etwas mit Würde zu tun hat, dass man von seiner Arbeit leben kann, dann muss das auch für Langzeitarbeitslose gelten. Hören Sie mit diesen Ausnahmeregelungen auf!

Der nächste Punkt, der dabei eine Rolle spielt, ist die Altersregelung. Frau Nahles hat dazu am 3. April in der Leipziger Volkszeitung gesagt:

Das beste Gesetz gegen Altersarmut ist der flächendeckende gesetzliche Mindestlohn für alle.

Für alle, also auch für Langzeitarbeitslose!

Wir haben die Bundesregierung gefragt, wie hoch die Nettorente sein müsste, damit jemand, der sein ganzes Leben gearbeitet hat, eine Rente bezieht, die über der Grundsicherung im Alter liegt. Die Antwort möchte ich Ihnen nicht vorenthalten ‑ ich zitiere ‑:

Um eine Nettorente … über dem durchschnittlichen Bruttobedarf in der Grundsicherung im Alter … bei einer wöchentlichen Arbeitszeit von 38,5 Stunden über 45 Jahre versicherungspflichtiger Beschäftigung hinweg zu erreichen, wäre rechnerisch ein Stundenlohn von rd. 10 Euro erforderlich.

Mit 8,50 Euro lösen Sie das Problem der Altersarmut in diesem Land überhaupt nicht.

Dann frage ich Sie: Was ist das für eine Regelung, die erste Erhöhung zum 1. Januar 2018 stattfinden zu lassen? Gilt denn die Würde erst ab dem 1. Januar 2018 wieder? Im Übrigen sind die 8,50 Euro von heute im Jahre 2017 nur noch 8,16 Euro wert. Das heißt, dass im Jahr 2017 sich die meisten Mindestlohnempfänger in der Bedürftigkeit wiederfinden und Sie somit mit der niedrigen Marge des Mindestlohns Ihre eigenen Ziele verfehlen. Das ist das Problem in diesem Zusammenhang.

Mein letzter Punkt: Durch einen Tarifvertrag kann der Mindestlohn ‑ Frau Nahles, Sie selber haben es angesprochen ‑ bis 2017 unterlaufen werden. Was ist denn das für eine Regelung, dass man Gewerkschaftsmitglieder per Tarifvertrag schlechterstellen darf als die, die nicht gewerkschaftlich organisiert sind? Haben denn die gewerkschaftlich Organisierten weniger Würde als die anderen? Hören Sie auf mit diesen Ausnahmeregelungen, meine Dame! Legen Sie vielmehr einen Mindestlohn für alle fest, wie Sie es angekündigt haben, und bestimmen Sie eine vernünftige Höhe! Damit erreichen Sie Ihre eigenen Ziele.

Noch eine letzte Bemerkung. Ich habe die Äußerungen von Herrn Schweitzer und anderen von der Industrie, dem Handwerk und der Hotelbranche gelesen, die sich massiv über diese Regelungen beschweren. Ich habe gedacht, ich traue meinen Augen nicht. Herr Schweitzer vom DIHK verweist auf die Chinesen und die Amerikaner, die übrigens in einigen Städten teilweise einen Mindestlohn von 14 Dollar einführen. Dazu sage ich nur: Lassen Sie sich ‑ da muss ich Sie jetzt wirklich in Schutz nehmen ‑ davon nicht beirren! Herr Schweitzer weiß doch genau, wo der Mindestlohn wirkt, nämlich in Branchen, in denen hauptsächlich Frauen arbeiten, und im Dienstleistungsbereich.

Jetzt wird gesagt, die Chinesen seien billiger. Glaubt denn wirklich einer, dass die Fenster, die geputzt werden müssen, nach China zum Putzen und dann wieder zurückgeschickt werden, weil es in China niedrigere Löhne gibt? Sind die denn von allen guten Geistern verlassen? Wie kann man denn die chinesischen Löhne im Dienstleistungsbereich, der ortsgebunden ist, mit unseren Löhnen vergleichen?

Deshalb sage ich Ihnen: Bitte bleiben Sie an der Stelle hartnäckig! Machen Sie vor allem das, was Sie angekündigt haben, nämlich einen gesetzlichen Mindestlohn für alle ohne Ausnahme!

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