Interview: Missbrauch beim Mindestlohn stoppen
Interview: Missbrauch beim Mindestlohn stoppen

Interview: Missbrauch beim Mindestlohn stoppen

„Pure Propaganda“, nennt Klaus Ernst, stellvertretender Vorsitzender der Fraktion DIE LINKE. im Bundestag, die Behauptung der Arbeitgeberseite, durch den Mindestlohn könnten bis zu einer Million Jobs vernichtet werden. Das habe sich seit der Einführung des Mindestlohns am 1. Januar 2015 nicht bewahrheitet, aber vier Millonen Menschen hätten davon profitiert. Der Missbrauch hingegen müsse gestoppt werden: „Wenn es darum geht, den Mindestlohn zu umgehen, werden manche Arbeitgeber regelrecht kreativ“, so Ernst.

In Deutschland gibt es seit dem 1. Januar 2015 den gesetzlichen Mindestlohn von 8,50 Euro, für den gerade DIE LINKE jahrelang gekämpft hat. Was hat der Mindestlohn in den anderthalb Jahren nach seiner Einführung bewirkt?

Klaus Ernst: Rund vier Millionen Beschäftige haben vom Mindestlohn profitierten können. Das ist jeder zehnte Job. Massive Jobverluste gab es nicht. Die Kampagne der Arbeitgeberseite, durch den Mindestlohn könnten bis zu einer Million Jobs vernichtet werden, war pure Propaganda. Allein im Bereich der Minijobs ist ein Rückgang zu verzeichnen. Jedoch wurde ein großer Teil dieser Stellen in sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse umgewandelt. Alle wirtschaftlichen Indikatoren seit der Einführung des Mindestlohns sind positiv. Der Arbeitsmarkt ist stabil. Die Beschäftigungsquote ist seit Einführung des Mindestlohns sogar gestiegen.
Aber: Noch immer sind durch Sonder- und Ausnahmeregelungen 1,5 Millionen Jobs vom Mindestlohn ausgeschlossen. So zum Beispiel junge Beschäftigte unter 18 Jahren, Praktikant*innen, Saisonarbeiter*innen und bis 2017 auch Zeitungszusteller*innen, sowie Beschäftigte in Branchen, in denen Übergangsregelungen gelten. Diese Ausnahmeregelungen gehören abgeschafft.

DIE LINKE kritisiert den Mindestlohn zudem als zu niedrig…

Im Bundesdurchschnitt reicht der Mindestlohn von 8,50 Euro nicht aus, um neben den Ausgaben zum täglichen Leben auch noch die Kosten der Unterkunft eines in Vollzeit beschäftigten Single zu decken. Das zeigt die ANTWORT AUF EINE KLEINE ANFRAGE von uns an die Bundesregierung. Nach Abzug von Sozialversicherungsbeiträgen, Steuern und des „Regelbedarfes“ von 404 Euro für die Kosten des täglichen Lebens bleiben vom Mindestlohn genau 336 Euro übrig. Dem stehen im Bundesdurchschnitt Wohnkosten für einen Single von 349 Euro gegenüber. Gerade in Ballungszentren ist die Lücke zwischen Gehalt und Lebenshaltungskosten enorm. In München liegen die Kosten der Unterkunft für Singles nach dem Sozialgesetzbuch bei 492 Euro – 156 Euro über dem, was der Mindestlohn hergibt. In den wenigsten Kommunen in den westlichen Bundesländern reicht der Mindestlohn eines Singles für die Kosten der Unterkunft. Das bedeutet: Aufstocken mit Hartz IV.

Die Anzahl der Menschen, die im Alter Grundsicherung beziehen müssen, um ihren Lebensunterhalt bestreiten zu können, hat sich seit 2003 mehr als verdoppelt. Für die Zukunft zeichnen aktuelle Prognosen ein düsteres Bild. Wie hoch müsste der Mindestlohn in Deutschland sein, um die Menschen vor Altersarmut zu schützen?

Wer 45 Jahre lang arbeitet, bei einer wöchentlichen Arbeitszeit von 38,5 Stunden, der müsste rein rechnerisch einen Mindestlohn von 11,68 Euro erhalten, um im Alter eine Nettorente oberhalb der Grundsicherung zu bekommen. Nicht nur im Alter könnten Vollzeitbeschäftigte im Mindestlohn auf zusätzliche Sozialleistungen angewiesen sein. DIE LINKE fordert daher, den Mindestlohn mittelfristig auf zwölf Euro zu erhöhen.

Kritiker warnen vor einem deutlich höheren Mindestlohn, da infolgedessen insbesondere im Osten Deutschlands durch die Nähe zu den osteuropäischen Ländern mit ihrem teils deutlich geringeren Lohnniveau die Schwarzarbeit gefördert würde. Ein berechtigter Einwand oder ein lösbares Problem? 

Das Problem ist doch nicht die Höhe des Mindestlohns, sondern die flächendeckende Kontrolle seiner Einhaltung. Dazu fehlt zum einen Personal. Die Zoll- und Finanzgewerkschaft BDZ kritisiert weiterhin, dass eine effektive Kontrolle durch die vielen Ausnahmen fast unmöglich ist. Sie fordert 2.500 neue Stellen. Der Bund plant nur 1.600 Stellen aufstocken – bis 2019. Gleichzeitig hat die Bundesregierung auf Druck der CDU/CSU die Dokumentationspflicht zur Erfassung der Arbeitszeit aufgeweicht und darüber hinaus die geplanten Neueinstellungen noch einmal verzögert. Damit wird dem Missbrauch Tür und Tor geöffnet.

Es häufen sich Berichte über Unternehmen, die mit allen Mitteln versuchen, den Mindestlohn zu umgehen. Zu welchen Tricks greifen die Arbeitgeber?

Wenn es darum geht, den Mindestlohn zu umgehen, werden manche Arbeitgeber regelrecht kreativ. Zuschläge wie Urlaubs- und Weihnachtsgeld werden mit dem Grundlohn verrechnet, Urlaubstage gestrichen, Kosten für Dienstkleidung und Arbeitsmittel auf den Arbeitnehmer abgewälzt. Zum Teil wurden Arbeitszeiten per Arbeitsvertrag reduziert, nur um im Gegenzug unbezahlte Überstunden anzuordnen. Auch kam es vor, dass Arbeitsverhältnisse kurzerhand zu studienbegleitenden Praktika umdeklariert wurden. So zeigte die Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage von uns, dass sich die Zahl der Praktikumsplätze bei den Berliner Filmfestspielen „Berlinale“ nach Einführung des Mindestlohns nahezu vervierfacht hat, während die Minijobs um ein Drittel schrumpften. Hier ist Vermutung naheliegend, dass es sich um eine bewusste Strategie zur Umgehung des Mindestlohns handelt. Das ist ein ungeheuerlicher Vorgang, das die Berlinale eine Institution des Bundes ist. Die Bundesregierung hat sicherzustellen, dass öffentliche oder mit öffentlichen Geldern geförderte Institutionen kein Lohndumping betreiben. Ansonsten bleibt die Mindestlohnpolitik der Großen Koalition reine Schaufenster-Politik.

Das Bundesarbeitsgericht hat gerade geurteilt, dass Sonderzahlungen wie Urlaubs- und Weihnachtsgeld in bestimmten Fällen mit dem regulären Gehalt verrechnen werden dürfen. Hat das Bundesarbeitsgericht hier falsch geurteilt?

Das Gericht hat eine Entscheidung gemäß geltendem Recht getroffen. Zu kritisieren ist daher nicht das Gericht, sondern die Bundesregierung. Von Anfang an haben wir die fehlende Definition des Mindestlohnbegriffes als offenes Einfallstor für Missbrauch kritisiert. Doch statt Unstimmigkeiten im Gesetz auszuräumen, hat sich die Bundesregierung taub gestellt. Bundesweit müssen Beschäftigte im Mindestlohn jetzt um ihr Urlaubs- und Weihnachtsgeld fürchten. Eigentlich ist klar: Lohn ist Lohn, Zuschlag ist Zuschlag. Die Bundesregierung muss dringend nachbessern.
Interview: Miguel Thomé

Veröffentlicht auf linksfraktion.de am 20. Juni 2016

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