Die aktuellen Entwicklungen in der Bundesrepublik sind alarmierend. Auf jeder Zigarettenschachtel stand früher: Rauchen gefährdet ihre Gesundheit. Auf vielen Arbeitsverträgen müsste inzwischen stehen: Achtung, diese Arbeit gefährdet ihre Gesundheit! Immer mehr Beschäftigte arbeiten regelmäßig länger als 48 Stunden in der Woche. Laut dem Institut für Arbeitsmarktforschung wurden allein im letzten Jahr 1,8 Milliarden Überstunden geleistet; nur knapp die Hälfte davon wurden auch bezahlt. Ebenso gestiegen ist die Zahl der Beschäftigten, die regelmäßig am Wochenende, am Sonntag oder nach 18 Uhr bzw. nachts arbeiten müssen. Jeder sechste Beschäftigte arbeitet inzwischen in Schicht. Durch hunderte Studien ist belegt: Solche Arbeitszeiten machen krank! Doch unter dem Deckmantel von Industrie 4.0 fordern die Arbeitgeberverbände eine weitere Flexibilisierung der Arbeitszeit. Für Beschäftigte heißt das nicht etwa mehr Raum für Selbstbestimmung, sondern Entgrenzung der Arbeit, Arbeit auf Abruf, keine Bezahlung von Überstunden, Zunahme von Stress. Wir fordern: Wochenhöchstarbeitszeit von 48 auf 40 Stunden reduzieren. Ein Recht auf Nicht-Erreichbarkeit und eine Anti-Stress-Verordnung für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Und: Die zwingende Ausweitung des Mitbestimmungsrechts der Betriebsräte bei Fragen der Zeitsouveränität und des Arbeitsvolumens der Beschäftigten.
Klaus Ernst (DIE LINKE):
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es geht um Arbeitszeiten, um Flexibilisierung der Arbeitszeiten, auch um weniger Stress durch vernünftige Arbeit. Wenn ich mich hier so umschaue, sehe ich: Es haben sich einige Kolleginnen und Kollegen sicher auch schon ins Wochenende verabschiedet.
(Max Straubinger (CDU/CSU): In die Arbeit verabschiedet!)
Wir als Abgeordnete können das tun, andere nicht, weil sie sehr starre Arbeitszeitverhältnisse haben, die teilweise ganz anders aussehen. Aber genau über diese müssen wir reden.
(Beifall bei der LINKEN)
Wir haben in der Bundesrepublik eine Entwicklung, die nicht in Ordnung ist. Wir haben die Bundesregierung gefragt, wie sich Arbeitszeiten entwickeln. Sie werden immer länger. 1,7 Millionen arbeiten inzwischen regelmäßig über 48 Stunden in der Woche. Diese Zahl hat dramatisch zugenommen. Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung hat ausgerechnet, dass 1,8 Milliarden Überstunden pro Jahr geleistet werden – im Übrigen würde das mehreren Hunderttausend Beschäftigten entsprechen -, von denen aber nur etwas mehr als die Hälfte bezahlt wurden. Immer mehr Beschäftigte müssen nachts arbeiten. 1995 waren noch 2,4 Millionen Beschäftigte nachts tätig, 2015 waren es 3,3 Millionen.
Meine Damen und Herren, ich erinnere mich an eine Betriebsversammlung bei einem größeren Automobilkonzern. Dabei ging es um die Durchsetzung von Nachtarbeit. Die Beschäftigten haben sich dagegen gewehrt. Einer von den Kollegen ging aus der Betriebsversammlung raus und sagte: Wenn der Herrgott gewollt hätte, dass wir nachts arbeiten, dann hätte er uns mit den Augen auch Glühbirnen in den Kopf gegeben, damit wir etwas sehen können.
(Heiterkeit und Beifall bei der LINKEN)
Da ist was dran, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Wir wissen alle: Nachtarbeit ist gesundheitsschädlich, und zwar extrem. Immer mehr Beschäftigte arbeiten regelmäßig am Wochenende: 8,8 Millionen 2015, Tendenz steigend. Was auch zunimmt, ist die Sonn- und Feiertagsarbeit. Das ist deshalb bemerkenswert, weil wir im Grundgesetz die Sonn- und Feiertage als Tage der Arbeitsruhe besonders geschützt haben: Sonn- und Feiertagsarbeit ist eigentlich ausgeschlossen. Trotzdem hat sich die Zahl derer, die regelmäßig sonntags und feiertags arbeiten, drastisch erhöht. 1995 waren es 2,9 Millionen, 2015 knapp 5 Millionen Menschen; ein Zuwachs von mehr als 70 Prozent.
Inzwischen, meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, arbeitet jeder Sechste in Schichten. Ich möchte darauf hinweisen, was das insbesondere in Familien bedeutet, in denen beide Partner in Schichten arbeiten. Da spielt sich das Familienleben oft auf Zetteln ab. Wenn man sich die Betreuung der Kinder einteilt, versucht man, dafür zu sorgen, dass einer der Partner zu Hause ist, während der andere arbeitet. Da läuft das Familienleben oft so ab, dass der Mann auf einen Zettel schreibt: Ich komme heute später. – Wenn er dann nach Hause kommt, findet er einen Zettel seiner Partnerin vor, auf dem steht: Ich habe es gelesen. – Wir müssen also aufpassen, was in unserem Land passiert.
Viele Hunderte von Studien belegen: Arbeitszeiten dieser Art machen krank. Wir haben es mit einer Zunahme von psychischen Erkrankungen durch Arbeit zu tun. Schichtarbeiter zum Beispiel sind häufiger von Herz-Kreislauf-Erkrankungen betroffen; das alles wissen Sie.
Auf jeder Zigarettenschachtel stand früher: Rauchen gefährdet Ihre Gesundheit. – Inzwischen ist diese Formulierung schärfer geworden. Eigentlich müsste auf manchem Arbeitsvertrag stehen: Diese Arbeit gefährdet Ihre Gesundheit.
(Beifall bei der LINKEN)
Wir wissen das. Aber wir haben momentan offensichtlich Hemmungen, das zu ändern. Wir erleben auf der anderen Seite, dass unter dem Deckmantel von Industrie 4.0 nun die Arbeitgeberverbände eine weitere Flexibilisierung der Arbeitszeit wollen. Damit meinen sie – ich zitiere den Präsidenten des Arbeitgeberverbandes Gesamtmetall, Dulger -: mehr Arbeitszeitvolumen, Befristung und Zeitarbeit. – Das ist die Zukunftsvorstellung der Arbeitgeber in dieser Frage.
Auch wir sind dafür, dass Arbeitnehmer flexibel arbeiten dürfen, wenn sie das wollen. Das bedeutet aber, dass wir regeln müssen, welche Rechte die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer haben, um diese Flexibilität an ihrem Arbeitsplatz durchzusetzen.
(Beate Müller-Gemmeke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Genau!)
Gegenwärtig haben sie diese Rechte kaum, wie wir wissen. Ich könnte Ihnen dazu noch viele Beispiele aus der Praxis erzählen.
Meine Damen und Herren, die Realität sieht anders aus. Flexible Arbeitszeit heißt für die Beschäftigten oft Entgrenzung von Arbeit, Arbeit auf Abruf, übrigens auch keine Bezahlung mehr von Überstunden, Zunahme von Stress. Deshalb: Wir brauchen gesetzliche Regelungen, die den Arbeitnehmer in die Lage versetzen, die von ihm gewünschte Zeitsouveränität selber durchzusetzen.
Meine Damen und Herren, ein Schlüssel dafür ist das Arbeitszeitgesetz. Das Arbeitszeitgesetz beschränkt die tägliche Arbeitszeit eigentlich auf acht Stunden. Allerdings macht das bei sechs Tagen in der Woche 48 Arbeitsstunden. Das ist eindeutig zu viel.
(Beifall bei der LINKEN)
Wir müssen über das Arbeitszeitgesetz die Dauer der Arbeitszeit ein Stück nach unten bekommen; deshalb unsere Forderung. Das Arbeitszeitgesetz selber ist löchrig wie ein Schweizer Käse. Da gibt es Ausnahmeregelungen für fast alles. Die Zunahme der Sonntagsarbeit ist dafür ein Beweis. Auch deshalb müssen wir diese Frage angehen.
Um Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen zu schützen, braucht es auch ein Recht auf Nichterreichbarkeit während der Freizeit.
(Beifall bei der LINKEN)
Wir brauchen eine Anti-Stress-Verordnung, mit der die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer geschützt werden. Dringend erforderlich ist auch die Ausweitung des Mitbestimmungsrechts der Betriebsräte bei Fragen der Zeitsouveränität und des Arbeitsvolumens der Belegschaft. Nur ein kleiner Hinweis. Betriebsräte haben Kündigungsschutz und können sich gegen ihren Arbeitgeber leichter wehren als der Einzelne ohne Kündigungsschutz.
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)
Dem Einzelnen drohen oft Nachteile, wenn er versucht, seine von ihm gewollte Flexibilität durchzusetzen.
Als Parlamentarier haben wir die Pflicht, uns schützend vor die Beschäftigten zu stellen und dem Trend, dass Arbeit zunehmend krankmacht, entgegenzuwirken. Wir könnten damit anfangen. Ich hoffe, dass unsere Debatte dazu führt, dass diese Themen tatsächlich parlamentarisch aufgegriffen werden.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
(Beifall bei der LINKEN)